Zusammenfassung und Ausblick

York Höllers erste und einzige rein elektronische Komposition Horizont von 1971-72 steht am Beginn einer bis heute anhaltenden Auseinandersetzung des Komponisten mit den Möglichkeiten elektrotechnischer Klangmittel. Noch auf das klassische elektronische Instrumentarium der 1950er und 1960er Jahre gestützt, ist Horizont bereits gekennzeichnet durch eine Dynamik aller musikalischen und innerklanglichen Parameter, deren Maßstab die Beweglichkeit, Komplexität und auch Klangschönheit der traditionellen Orchesterinstrumentenklänge sind.

Auf der Suche nach neuen Ausdrucksmitteln (von denen der Klang "eines der wichtigsten, ja 'das' eigentliche und genuin musikalische ist"[1]) wandte sich Höller im Anschluß an die Fertigstellung seiner ersten Auftragsarbeit für den Westdeutschen Rundfunk der Live-Elektronik zu und befaßte sich intensiv mit der damals aktuellen Spannungssteuerungstechnik analoger Synthesizer. Dieses Musikinstrument zur elektronischen Klangerzeugung und -verarbeitung kombinierte der Komponist in Tangens (1973) zunächst mit weiteren elektronischen bzw. mechanisch-elektronischen Instrumenten (elektronische Orgel, E-Gitarre, E-Baß) und zusätzlichen Modulationsgeräten (Leslie, Vibrato, Wahwah, Hall, Filter, Klangregler der Instrumentalverstärker)[2] sowie per Mikrophon angekoppelten traditionellen Instrumenten, in Chroma (1972-74) dann auch und vor allem mit den untransformierten Orchesterinstrumenten. Spätestens mit dem letzten Werk der live-elektronischen Phase verdichteten sich die nach der Realisation von Horizont in den Vordergrund getretenen Bemühungen, "verschiedene Lösungen für das (ästhetische) Problem der Verschmelzung von instrumentalem und elektronischem Klang zu finden",[3] auf den Aspekt der elektronischen Transformation von Orchesterinstrumentenklängen. Elektronisch erzeugte Klänge des Analogsynthesizers verlieren in Klanggitter (1976-77) an Bedeutung und mit ihr schwindet auch das Moment der Live-Transformation - die elektronisch verarbeiteten Klavier- und Violoncelloklänge wurden im Studio vorproduziert und treten als Tonbandklänge ihren unverarbeiteten Pendants zur Seite.

Die drei folgenden Kompositionen basieren auf diesem Prinzip der Kombination von Musikinstrumenten des traditionellen Orchesterapparats mit einem Vierspurtonband, auf dem transformierte Klänge genau der Orchesterinstrumente gespeichert sind, mit deren Klängen sie während einer Aufführung in Verbindung treten sollen. In Antiphon von 1976 erweiterte Höller das Streichquartett um ein transformiertes, bei Arcus (1978) ließ der Komponist ein digitalisiertes und ein originales Ensemble aufeinandertreffen und in Umbra von 1979 bis 1980 schließlich trat ein großes Orchester mit seinem schattierten Spiegelbild in Kontakt. Höller machte sich hierbei zwei Eigenschaften des in einer Jahrhunderte langen Entwicklung zu seiner Perfektion ausgeformten Orchesterinstrumentariums zunutze, indem er zum einen durch die elektronischen Transformationen von Orchesterinstrumentenklängen auf deren Klangkomplexität aufbaute, zum anderen die dem Orchesterapparat von Generationen von Instrumentenbauern angeeignete Klanghomogenität nutzte und diese Fähigkeit zur klanglichen Verschmelzung bei gleichzeitiger Klangvielfalt auf die Kombination von Orchesterklängen und elektronisch verarbeiteten Orchesterklängen übertrug - beides unter dem Aspekt der Erweiterung des 'verbrauchten' traditionellen Orchesterklangs und mit dem übergeordneten Ziel der Erschließung neuer klanglicher Ausdrucksmittel. Bezüglich dieses Zieles und auch der Entscheidung, auf die damaligen Möglichkeiten der rein elektronischen Klangerzeugung zu verzichten, sagt Höller im Zusammenhang mit Arcus:

"Das Repertoire der 'natürlichen' Klangfarben scheint weitgehend verbraucht. Selbst neue Spieltechniken führen meines Erachtens nicht mehr zu deutlich 'anderen' Klangcharakteren. Dagegen ist das Medium der Elektronik einer nur teilweise erschlossenen Landschaft vergleichbar, in der es wahrlich noch eine Menge zu entdecken gibt. So geht meine 'Expeditions-Route' seit geraumer Zeit in folgende Richtung: Es besteht kein Zweifel, daß - im Vergleich zu den verhältnismäßig stereotypen Generatorklängen (Sinus, Rechteck etc.) - die natürlichen Instrumentalklänge sich durch erheblich interessantere Spektren auszeichnen. Komplexere synthetische Gemische sind aber bisher nur recht schwer im Sinne 'lebendiger' Bewegungen zu handhaben. Auch hier obsiegen (noch) die von Musikern gespielten Instrumente. Es war für mich daher naheliegend, deren Klänge als Grundmaterial für die elektronische Bearbeitung zu wählen."[4]

Die geäußerten Bedenken gegenüber stereotypen Generatorklängen waren bei Höllers zweiter Arbeit im Studio für Elektronische Musik des WDR ausgeräumt. Der für Mythos von 1979 bis 1980 hauptsächlich benutzte "Synthi 100" lieferte ebenfalls nur die Grundwellenarten, die Höller bei Horizont kennengelernt und mit denen er sich bei der Ausarbeitung der nachfolgenden Werke mit Analogsynthesizern weiter beschäftigt hatte, allerdings werden die zahlreichen und gut aufeinander abgestimmten Verarbeitungsmöglichkeiten mit durchkonzipierter Spannungssteuerungstechnik dieses großen Studio-Synthesizers die Perspektive eröffnet haben, die vorbildliche Komplexität konkreter Klänge in eine entsprechende innerstrukturelle Beweglichkeit elektronischer Klanggebilde überführen zu können. Dieser zielgerichtete "Kernpunkt" elektronischer Musik, das "Niveau elektronischer Klänge" dem der Orchesterinstrumentenklänge anzugleichen,[5] beschreibt Höller 1984:

"Die Komplexität instrumentaler Klänge muß in eine vergleichbare Komplexität elektronischer Klänge übersetzt werden. Das bedeutet natürlich keineswegs, daß instrumentale Klänge möglichst getreu imitiert werden sollen. Es geht vielmehr darum, den Klang als komplexe akustische Erscheinungsform, ja als Prozeß - 'natürliche' Klänge stehen nie still, sind ständig in Bewegung - begreifen zu lernen und diese Erkenntnis auf die Klangsynthese zu übertragen. Je reicher, lebendiger, 'natürlicher' ein elektronischer Klang wirkt, umso höher wird seine potentielle musikalische Aussagekraft sein."[6]

Ihre musikalische Aussagekraft erhalten einige elektronische Klänge in Mythos allerdings gerade durch die generell nicht angestrebte auditive Ähnlichkeit mit Instrumentenklängen, indem sie Höller als bewußt imperfekte Klangabbilder ihren Originalen gegenüberstellt und ihnen so einen mit dem gestalthaften Gesamteindruck von Mythos parallel gehenden fremdartig-mystischen Charakter verleiht. Und auch die komplexen Klanggebilde, die mit typisch elektronischen Eigenschaften aus dem traditionellen Orchesterklang herausragen, erhalten durch den kompositorisch angelegten Bezug zu den bekannten Orchesterklängen ihr sagenhaft-unwirkliches Aussagepotential.

Die 'Übersetzung' des flexiblen Obertonspektrums konkreter Klänge in entsprechend bewegliche Obertonverläufe elektronischer Klänge konnte York Höller schließlich mit einem elektronischen Gerät verwirklichen, das im Grunde genau für diesen Vorgang technisch konzipiert worden war. Der Vocoder, dessen Filter der Komponist bereits in Mythos verwendet hatte, diente in der Komposition Schwarze Halbinseln von 1982 zur Klangverarbeitung von elektronischen und konkreten Klängen nach Maßgabe von Sprachklängen, indem die dynamischen Formantstrukturen und die Artikulation der Sprachklänge mit Hilfe dieses Geräts auf die Tonbandklänge übertragen wurden. Diese Tonbandklänge ließen nicht mehr eine Konzentration auf den Bereich der elektronischen Klänge oder den der verarbeiteten instrumentalen Klänge, der bis dahin überwogen hatte, erkennen, sondern stellten nun eine Synthese beider Bereiche unter erstmaliger Hinzuziehung auch von Sprach- und Vokalklängen dar. Das Gedicht, dem letztere entstammen, übernimmt in Schwarze Halbinseln die steuernde Funktion sowohl in klanglicher Hinsicht, indem dessen Expressivität in Wechselwirkung mit dem Aussagepotential der Klänge tritt, deren Aussagerichtung vorgibt und den innerstrukturellen Klangaufbau lenkt, als auch bezüglich formal-strukturierender Momente der Komposition. In dieser Funktion geht das Gedicht bzw. dessen Struktur eine Beziehung mit den formkonstituierenden Kräften der dem Hauptteil des Werkes zugrunde liegenden Klang- bzw. Zeitgestalt ein, die einem Formdenken entstammt, "das in sich bereits erhebliche Affinitäten zum Sprachlichen aufweist".[7]

1976 hatte Höller seine Theorie der Gestaltkomposition ausgearbeitet und ein erstes Werk auf Basis einer Klanggestalt komponiert. In Art einer Keimzelle entspricht eine Klanggestalt einer komponierten Materialdisposition, in der die musikalischen Anlagen des Werkes bereits enthalten sind. Im Bestreben, "eine in sich zusammenhängende musikalische Sprache zu entwickeln, in der die klanglichen und raumzeitlichen Kategorien Melodik, Harmonik, Metrik, Rhythmik, Form verbunden sind",[8] hatte Höller hierbei auf seine Kritik am Serialismus der 1950er Jahre aufgebaut und diesen weiterentwickelt.

Bezogen sich die "klanglichen ... Kategorien", die aus einer Klanggestalt hervorgehen, zunächst auf den musikalischen Parameter Harmonik und unterstützten die elektronischen und elektronisch verarbeiteten Klänge zunächst vor allem formal-strukturierende Kräfte der Klang- bzw. der aus ihr abgeleiteten Zeitgestalt, so stellte Höller spätestens bei der Realisation von Arcus, seinem zweiten Auftragswerk für das IRCAM und gleichzeitig seiner ersten Auseinandersetzung mit der digitalen Klangsynthese bzw. der computergestützten Klangtransformation, fest, daß auch die klanglich-auditiven Momente einer Komposition durch die Klanggestalt steuerbar sind.

Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nun, in der sich York Höller vor allem der Komposition seiner ersten Oper Der Meister und Margarita nach Michail Bulgakow gewidmet hat, und in den 1990er Jahren sind zwei Entwicklungstendenzen bezüglich klangkonzeptioneller Erwägungen erkennbar: Zum einen wandte sich Höller wieder stärker den rein instrumentalen Kompositionen zu ohne die Einbeziehung elektrotechnischer Klangmittel. Die zunächst als Vorbild für die Entdeckung neuer Klangräume im Sinne des "son organisé" genommene komplexe Klangstruktur und die Klangschönheit der Orchesterinstrumente gewinnt wieder an Eigenwert bzw. Eigenständigkeit:

"Der Klang einer guten Geige stellt immer noch - und gerade in meiner Auseinandersetzung mit Computerklängen ist es mir klargeworden - ein Wunder an Reichtum dar, an Differenziertheit und Vielschichtigkeit. Ein solcher Geigenklang ist physikalisch betrachtet unendlich kompliziert und auf elektronischem Wege kaum realisierbar. Warum sollten wir auf diesen Reichtum, der uns durch die herkömmlichen Instrumente gegeben ist, verzichten, nur weil er vielleicht nicht in die mathematische Rechnung paßt? Ich habe darauf noch nie eine plausible Antwort bekommen."[9]

Zum anderen allerdings befaßt sich Höller intensiv mit den elektronischen Möglichkeiten digitaler Klangsynthese und Klangtransformation, indem er sich, seitdem er künstlerischer Beauftragter des Studios für Elektronische Musik des WDR Köln geworden ist, für die Ausrüstung des Studios mit moderner Computertechnik einsetzt, und indem sich der Komponist York Höller vor allem einer zweiten live-elektronischen Phase zugewandt hat, in der digitale Synthesizer und Sampler nun als integraler Bestandteil des Orchesterapparats auftreten und die von einer zukunftsorientierten Perspektive bezüglich klangkonzeptioneller Erwägung im Sinn eines sehr modernen "son organisé" geprägt ist:

"Auf die Frage, wohin sich die Elektronische bzw. Computer-Musik in Zukunft bewegen wird, kann ich nur mit einer Vermutung antworten. Ich gehe davon aus, daß wir in absehbarer Zeit superschnelle Rechner haben werden, die in der Lage sind, nicht nur enorme Datenmengen in Form von Klängen und Klangstrukturen zu speichern, sondern sie auch ohne Zeitverzögerung abzurufen und ihre Spielparameter zu kontrollieren. Damit würde der Computer zu dem, was wir von ihm erhoffen: zu einem neuen Musikinstrument."[10]


[1] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 452.
[2] Vermutlich boten sich diese vor allem in der Jazz- und Popmusik gebräuchlichen Instrumente und Effekt-Geräte unter anderem aus rein technischen Gründen an, da sie die nötigen Voraussetzungen zur gegenseitigen Ankopplung bereits mitbringen. Allerdings weist Höller im Programmtext zur Uraufführung von Tangens auch auf klangtechnische Einflüsse oder Anregungen aus dem Jazzrockbereich hin (Programmheft Musik der Zeit IV. Konzertvariationen, a. a. O.; siehe Anhang).
[3] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 457.
[4] Programmheftbeitrag York Höllers zur dt. Erstaufführung von Arcus, a. a. O.
[5] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, a. a. O., S. 453.
[6] Ebd.
[7] Programmheftbeitrag York Höllers zur Uraufführung von Schwarze Halbinseln, a. a. O.
[8] Programmblattbeitrag York Höllers zu einer Aufführung von Antiphon am 16.01.1998 in der Hochschule für Musik Köln innerhalb des Konzerts B. A. Zimmermann und seine Schüler. Hommage zum 80. Geburtstag des Komponisten.
[9] York Höller, zitiert nach Manfred Karallus, Komponieren heute: Schlangenbeschwörung und Pythagoras verbindend... Der Komponist York Höller, S. 15, in: NZfM CXLIV, 1983, H. 11, S. 14-18.
[10] York Höller, Zur gegenwärtigen Situation der Elektronischen Musik, erweiterte und sprachlich überarbeitete Fassung des gleichnamigen Aufsatzes von 1984, 6 Seiten, unveröffentlicht.